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Haldensleben, Ev. Marienkirche St. Marien, III+P/45 + 1 Transmission

Man könnte die bedeutende historische Orgel der Ev. Marienkirche Haldensleben von 1875/78 als Pechvogel unter den Königinnen der Instrumente bezeichnen, wenn man ihren Lebensweg in den letzten hundert Jahren nachverfolgt:

– 1917 Verlust der Zinnprospektpfeifen, später Ersatz in Zink

– 1935 gravierender Umbau technisch und klanglich, möglichst viele neue moderne Register und Spielmöglichkeiten mit sehr begrenztem Budget

– anschließend Störanfälligkeit, weil weder gut konstruiert, noch hochwertig ausgeführt und ohne Rücksicht auf akustische Anforderungen eingebaut (sprichwörtlich Masse statt Klasse)

– seit 1988 wechselnde Orgelplanungen zwischen Neubauten und Reparaturen

– 1996/97 Instandsetzung mit begrenzten Mitteln – und begrenztem Erfolg

– seitdem zunehmend in Mitleidenschaft durch schlechten Bauzustand der Kirche

– zunehmende Ausfälle wg. der konstruktiv-baulichen Mängel, der Begrenztheit der Überholung 1996/97 und des zunehmenden Verschleißes

– 2020 technisch nur noch teilspielbar, und dies auch nur mit viel Phantasie, um ausgefallene, verstimmte und nur noch teilweise klingende Töne, zu spät kommende Tasten und defekte Schalter zu „ersetzen“.

– Holzwurmbefall, massiv an den Prospektstöcken, der Doppelflöte des Hauptwerks und im Großpedal; dazu Schimmelbefall an den Tonleisten des III. Manuals.

Ein zentraler Aspekt ist die Denkmalwürdigkeit der erhaltenen Teile von 1875/78, nicht nur wegen ihres Alters, sondern wegen ihrer hochwertigen Ausführung und als Bestandteile einer damals sehr bedeutenden und großen Orgel, die einen unikaten Marktstein in der sachsen-anhaltischen Orgellandschaft als größtes noch in wesentlichen Teilen erhaltenes Werk der Magdeburger Orgelbauwerkstatt Böttcher darstellt, dem durch die geplante Komplettierung wieder eine ihm gebührende Bedeutung und Rolle im Musikleben zukommen wird. Mit ihrer besonderen musikalischen Konzeption wird sie einen Akzent neben den vielen Orgeln der damaligen großen Orgelfabriken wie Wilhelm Sauer o.a. darstellen.

Die wiederhergestellte Orgel will keine Kopie oder Rekonstruktionsversuch der verlorenen ursprünglichen Orgel sein, sondern greift den Geist und den Stil der Orgel von 1875/78 anhand des erhaltenen Materials auf und führt ihn weiter zu einem modernen Instrument für die Nutzung in den Ansprüchen unserer Zeit. Das bedeutet aber keineswegs einen frei-universalen Neubau, der vom historischen Material nur das übernimmt, was passt oder Kosten spart, sondern die Orgel erwächst ganz bewusst aus der deutsch-romantischen Tradition der Bauzeit von 1875/78 und führt diese in die Zukunft weiter, indem sie alles erhaltene wertvolle Material einbezieht und daraus das zu Ergänzende herleitet. Die wiederhergestellte Orgel soll vielseitig sein, aber nicht beliebig – sie soll eine Orgelpersönlichkeit mit einem ausgeprägten individuellen Charakter werden, der sie unikat und einzigartig macht.

Jiri Kocourek